Historische Zahlenangaben bleiben für uns oft abstrakt, verschwimmen zu einem »ist echt lang her«, einem »ziemlich viel« oder »ganz schön wenig«. Vielleicht kann es helfen, die abstrakten Größen in für uns begreifbare Kontexte zu setzen.
Geschichtswissenschaft handelt nicht von Zahlen, sondern von Menschen. Trotzdem sind historische Texte voll davon: Jahreszahlen, Zeiträume, Menschenmengen, Größen- und Mengenangaben. Manchmal werden sie verglichen, man betrachtet ihre Entwicklung, erklärt ihren Kontext. Oft dienen sie einfach nur als Fixpunkte in einem Kontinuum von vorher und nachher. Geschichte handelt nicht von Zahlen, und trotzdem erzählen allein Zahlen manchmal eine verblüffende Geschichte. So ist vermutlich nur wenigen Menschen klar, wie viel leerer die Welt früher war. Und dies, ohne dass wir in weit entfernte historische Epochen zurückgehen müssen. Im Jahr 1900 lebten etwas 1,6 Milliarden Menschen auf der Welt, heute sind es 7,8. Es gibt heute also fast fünfmal so viele Menschen, ein erheblicher Unterschied nicht nur auf dem Papier; er wäre für uns auch sichtbar und spürbar. Aber wir können dies nur schwer nachfühlen, denn es ist eben nur eine Zahl auf dem Papier.
Historische Zahlenangaben bleiben für uns oft abstrakt, verschwimmen zu einem »ist echt lang her«, einem »ziemlich viel« oder »ganz schön wenig«.
Vielleicht kann es helfen, die abstrakten Größen in für uns begreifbare Kontexte zu setzen. Wenn es um Menschenmengen geht, ist für mich als Fußballfan eine sehr greifbare Größe das Erlebnis eines ausverkauften Stadions. Wer jemals in einem vollen Stadion wie in Dortmund war, weiß was ich meine. Dort ist eine große Zahl von Menschen nichts Abstraktes. Wenn ich, leider viel zu selten (und im Moment ohnehin nicht), auf »der Nord« sitze, gegenüber der berühmten gelben Wand und der größten Stehtribüne der Welt, dann wird eine große Menschenmasse intensiv spürbar, hörbar und sichtbar. Wer nie in einem vollen Stadion war, der stellt sich dies vielleicht einschüchternd vor, aber das ist es nicht. Es ist ein schwer zu greifendes kollektives Gefühl, aufregend und jenseits aller Vereinstreue verbindend.
Stellen wir uns vor, wie wir im Signal-Iduna-Park von Dortmund unten am Rand des Spielfeldes stehen. Der Rasen ist noch leer, aber die Ränge sind ausverkauft bis auf den letzten Platz. Das Stimmengewirr erfüllt wie ein dumpfes Dröhnen die Luft. Mit einem kleinen Schwenk unseres Kopfes sehen wir 81.365 Menschen, wir können diese Menge fast mit einem Blick erfassen. Wir sehen sie von der ersten unteren Reihe hinter den bannergeschmückten Zäunen bis weit oben unter das Stadiondach. Groß und klein, jung und alt, Fangruppen, Familien. 81.356 Menschen. Eine riesenhafte Menge und doch nicht abstrakt, denn schau, hier sind sie.
Behalten wir dieses Bild vor Augen, denn nicht die Mannschaften betreten nun das Feld. Stellen wir uns vor, es würden Waffen auf das weite Spielfeld gebracht. Keine Handfeuerwaffen, sondern weitreichende Maschinengewehre auf drehbaren Lafetten und sogar kleine Artilleriegeschütze, vier, fünf, vielleicht sogar zehn Stück. Die Schützen machen sich bereit und töten unter infernalischem Lärm alle Menschen im Stadion, jeden einzelnen von den ersten Reihen hinter den Zäunen bis weit hinauf zum letzten Platz unter dem Stadiondach. Wir lassen keinen am Leben. Das ganze Stadion ist voller toter Menschen, 81.365.
Schließlich lassen wie die Toten abtransportieren, jeden einzelnen, bis das Stadion leer ist. Man wirft die Leichen achtlos auf irgendein Feld oder den großen Zuschauerparkplatz. Das spielt keine Rolle, es ist uns egal. Am nächsten Tag lassen wir neuen Menschen ins Stadion strömen und wieder ist das Dortmunder Station voll bis auf den letzten Platz. Wir töten auch sie. Die großen Maschinengewehre bestreichen die Ränge, bis jeder einzelne tot ist, ein furchtbarer Anblick. Wir lassen auch diese Toten wegräumen und wiederholen es am nächsten Tag ein weiteres Mal. Nicht einer der 81.365 Menschen auf den Rängen überlebt.
Dies machen wir insgesamt fast zwei Wochen, 13 Tage lang, jeden Tag für Tag für Tag. So viele Menschen kamen im Ersten Weltkrieg in einer einzigen Schlacht an der Somme ums Leben, über 1,1 Millionen Tote. Eine abstrakte Zahl? Gewiss. Es sind 13 voll ausverkaufte Fußballstadien des größten Stadions in Deutschland. Und Schlachten in annähernd dieser Größenordnung gab es zahlreiche im Ersten Weltkrieg. Wir müssen uns stets bemühen, die Wirklichkeit hinter der Zahl zu fassen, denn ein unfassbarer Schrecken berührt uns nicht. Doch er beziffert das wahre Wesen des Krieges, eine ungeheure Zahl ermordeter Menschen.