Donnerstag, 14. Januar 2021

Eskapismus und Geschichtsbücher

Eine gute Zeit für historische Sachbücher. Realitätsnaher Eskapismus: Psychohygiene durch Erkenntnisgewinn.

In fortschreitenden Corona-Zeiten lebe ich im Niemandsland. Die Grenze zu einem aktiven analogen Sozialleben (Kneipe, Kölsch, Museum, Stadion … hey, fremde Menschen!) lässt sich zurzeit nicht überschreiten. Der Rückzug auf die Couch und in fiktive Welten ist deshalb verlockend und hat mich sanft durch die Weihnachtszeit geleitet.

Es fühlt sich gesund an, immer Mal wieder auf Mute zu drücken und die Welt auszuklammern. Doch die Gegenwart ist in Bewegung und historische Prozesse beschleunigen sich. Ich muss mit mir selbst die Frage ausmachen, wie gut sich vor diesem Hintergrund Eskapismus für mich anfühlt und wie ich der intellektuellen Unruhe begegne, die sich nicht mehr so recht abschütteln lässt. 

Als ich TV-Zuschauer der Ereignisse in den USA wurde, war es vor allem ein Satz, der mir immer wieder in den Sinn kam: Schluss mit Eskapismus. Die Welt ist für mich zu laut geworden, um sie auszusperren. Dass ich studierter Historiker bin, mag hier eine Rolle spielen. Ich habe das Bedürfnis, mich von spontanen Emotionen zu lösen, um die Sache irgendwie mit Abstand zu bewerten, aber für diesen Impuls muss man sicher nicht Geschichte studiert haben. Ich will jetzt hier gar nix zur USA schreiben, da gibt es Schlauere und Informiertere als mich. Aber ich muss mit meiner eigene Befindlichkeit umgehen. Bei Belletristik mag sich gerade keine rechte Entspannung einstellen. Mein vorgesehener Lesestapel wirkt seltsam schweigend, als hätten mir die bunten Cover aktuell nur wenig zu sagen. Es ist nicht so, als würden Sorge und ein vager »Weltschmerz« die Entspannung überlagern; es fühlt sich eher an, als würden die meisten Romane nicht die richtigen Denkbewegungen anregen, keinen zeitgemäßen Genuss bieten. Die Wirklichkeit hat gerade die relevantere und – ganz urteilsfrei – auch die spannendere Narration. Doch CNN in Dauerschleife ist die schlechteste aller Ideen, eine endlose, zermürbende Kette erregter Meinungsäußerungen. 

Eine gute Zeit für historische Sachbücher – realitätsnaher Eskapismus. Psychohygiene durch Erkenntnisgewinn. Phantastik – bekanntermaßen meine belletristische »Heimat« – ist in hohem Maße eine metaphorische Literatur. SF und Fantasy spiegeln und verfremden unsere aktuellen und vergangenen Lebenswirklichkeiten und Biografien, von Flash Gordon bis Kim Stanley Robinson. Doch je lauter die Geräusche der Wirklichkeit werden, desto stärkere Anziehungskraft haben die Realitäten hinter den Metaphern für mich. Dann sind es nicht die imaginierten Imperien, sondern die realen, keine Orks, sondern Nazis. 

Schon während meines Geschichtsstudiums war mir sehr bewusst, dass meine Liebe für historische Themen eine Liebe zu den Narrationen ist. Geschichtswissenschaft ist eine methodisch gebundene literarische Konstruktion und ein »Text« im philosophischen Sinne; und dennoch einige Schichten näher am »Ding an sich«, so es dies in sozialen Systemen gibt. Die vergangenen Könige, Imperien, Grausamkeiten, Niederlagen und Siege haben uns viel über unsere Gegenwart zu sagen. Nicht weil sich Ereignisse wiederholen, es ist die menschliche Natur und die Dynamik sozialer Systeme, die sich wiederholt.
Thukydides, der »Urvater« der modernen Geschichtsschreibung, der seiner Schilderung des Peloponnesischen Krieges im fünften Jahrhundert v. Chr. den Grund seiner Aufzeichnungen voranstellt, sah hierin den tieferen Sinn seiner Historie: »wer aber das Gewesene klar erkennen will und damit auch das Künftige, das wieder einmal, nach der menschlichen Natur, gleich oder ähnlich sein wird, der mag es so für nützlich halten …« Hieran hat sich, aus meiner Sicht, über die Jahrtausende nichts geändert.

Der historische Blick hat andere Möglichkeiten als CNN, die Wirklichkeit gedanklich zu bändigen, trennt vielleicht schneller Hysterie von berechtigter Sorge und schärft den Blick für das Langfristige hinter dem Spontanen. Doch natürlich geht es mir nicht nur darum, irgendetwas »in den Griff zu bekommen« oder zu bewerten. Es geht auch um Lesevergnügen. Ein Teil der Spannung beim historischen Sachbuch liegt für mich in dem Bewusstsein, dass ich über etwas wirklich Gewesenes lese. Etwas, das durch die Jahre oder Jahrhunderte nach mir greift und wie eine genetische Spur bis heute in meiner Wirklichkeit nachweisbar bleibt.

Geschichtswissenschaft beschäftigt sich mit dem Weg, den wir gegangen sind, um genau dort zu stehen, wo wir jetzt gerade sind … und weitergehen. Gerade in Phasen, in denen sich historische Prozesse beschleunigen (Wiedervereinigung, Zerfall der Sowjetunion, 9/11 … und auch die aktuelle Entwicklung in den USA), ist historisches Denken einer der Sensoren, die uns zur Verfügung stehen, um mehr zu sehen, als zu sehen ist. Überflüssig zu erwähnen, dass auch Historiker keine besonders zuverlässigen Zukunftsforscher sind. Doch wenn sich Historiker Sorgen machen, sollten wir auf jeden Fall wachsam werden.

Das spannendste Buch, das ich in den letzten Monaten gelesen habe, war Barbara Tuchmans Klassiker »August 1914« zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges und zum Verlauf des kurzen Bewegungskrieges, bevor Europa in den grausamen Knochenmühlen der Schützengräben erstarrte, um dort langsam auszubluten. Barbara Tuchman hat mich in solch unerwartet intensivem Maße gefesselt, dass ich meinen Lesestapel ignoriere und meinen Impulsen nachgebe, um von Buch zu Buch zu springen … Tuchmans Klassiker ist rund 60 Jahre alt und in einigen Perspektiven veraltet, deshalb kann man dort nicht stehen bleiben. 

Es folgte die aktuellere und überaus exzellente Darstellung von Michael Howard zum Ersten Weltkrieg und gerade zurzeit die Monografie »Die Spanische Grippe: Die Seuche und der Erste Weltkrieg« von Manfred Vasold. Ich kann dieses vergleichsweise schmale Bändchen gar nicht schnell genug zu Ende lesen (es kommt stilistisch auch nicht an die beiden vorherigen heran), denn schon wartet am Ende des Ersten Weltkrieges die Novemberrevolution in Deutschland und die Entstehung der Weimarer Demokratie. 

Hinter mir im Regal steht seit einigen Jahren ein (auch im Sinne des Wortes) Schwergewicht der modernen Geschichtswissenschaft, Orlando Figes Meisterwerk zur Russischen Revolution, »Die Tragödie eines Volkes«. Ich hatte es vor Jahren zur falschen Zeit in unpassender Stimmung begonnen und fühlte mich nach 100 Seiten wie von einer zu komplexen Symphonie überfordert. Nun scheint alles darauf zuzulaufen, aber wer weiß … ich bin gespannt, wohin mich meine Impulse führen werden. Vielleicht sogar in ein anderes Jahrhundert und näher an meine Studienschwerpunkte? Im Moment gebe ich mir freien Lauf. 

Vielleicht ist die Anziehungskraft, die geschichtswissenschaftliche Bücher derzeit auf mich haben, ein Hinweis, dass sich mein Eskapismus unbewusst mit meinem Weltgefühl synchronisiert. In einer unruhigen Welt geht der Blick zurück, wir suchen unsere Position im Fluss der Zeit.


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