Freitag, 4. September 2020

Verführung zur unmöglichen Liebe

Amal El-Mohtar und Max Gladstone führen uns in einen Krieg um die Liebe. In ihrer eleganten, poetischen Novelle This is How You Lose the Time War sind die eigentlichen Gewinner wir, die Leserinnen und Leser.

Für den französischen Philosophen Jean Baudrillard steht die Verführung nicht nur vor, sondern auch über der Liebe, denn während die Vorstellung von idealer Liebe einen Endzustand erträumt, in dem sich alle Widersprüche auflösen, geht die Verführung »von einer rätselhaften dualen Beziehung, einer werbenden, starken und geheimnisvollen Anziehung zwischen den Lebewesen und Dingen aus. Sie ist keine Form der Antwort, sondern eine Herausforderung, ein Duell, eine geheime Distanz und ein ständiger Antagonismus, aus dem sich Spielregeln ausbilden.«  [J. Baudrillard, Die Macht der Verführung] Wenn die Verführung eine Form des Duells ist, kann ein Duell dann auch zur Verführung werden?

Die feindlichen Agentinnen Red und Blue führen einen Kampf um die Zukunft aller Welten, doch wem ist der Krieger in der Einsamkeit des Schlachtfeldes näher als seinem Gegenstück auf der anderen Seite? Einen ebenbürtigen Gegner können wir respektieren, wir sehen uns in ihm und wenn der Kampf lang genug währt, dann wird er zu einem gemeinsamen Tanz und die Feindschaft zur Anziehung. So macht irgendwann einer der Kontrahenten eine respektvolle Geste oder einen spöttischen Gruß über Frontlinien hinweg, dem anderen zu zeigen, dass er ihn sieht. Nicht als Feind, nicht als Freund, sondern als Mensch.

Die Todfeinde Red und Blue öffnen diese Tür, in dem sie über die Geschehnisse und Manöver ihres Kampfes hinweg Kontakt zueinander aufnehmen. Zwei verbissene, geniale Schachspielerinnen, die sich plötzlich über das Brett hinweg in die Augen sehen. Und was sie dort sehen, ist ein Spiegel ihrer selbst. Aus einem Duell der Gegensätze wird ein gemeinsamer Kampf, ein Spiel und schließlich …  ohne es zu ahnen, ist es für Red und Blue der Beginn einer gegenseitigen Verführung mit ungewissem Ausgang.

»What do I want? Understanding. Exchange. Victory. A game – hiding and discovery. You’re a swift opponent, Blue. You play long odds. You run the table. If we’re to be at war, we might as well entertain one another.« [S. 46]

Ihr Krieg ist unendlich variantenreicher als Schach. Beide sind Gesandtinnen aus einer fernen Zukunft und für jede steht die eigene Welt auf dem Spiel. Blue und Red sind Elite-Soldatinnen in einem Zeitkrieg um alternative Wirklichkeiten. Als hochprofessionelle, präzise Agentinnen stürzen sie Welten und Zivilisationen in Abgründe oder heben sie aus diesen hervor. Wie in einem unfassbar komplexen Setzkasten werfen sie Millionen von Leben in die Restekiste der Zeit, wie ein Kind Playmobil-Figuren sortiert. Ein Wissenschaftler, der unerwartet eine Naturkatastrophe überlebt; eine Entdeckung, die nie gemacht wird; ein Krieg, der anders ausgeht als erwartet; ein Mönch, den der Klang des Windes zu einer neuen Religion inspiriert – Red und Blue verursachen Domino-Kaskaden durch die Jahrtausende. Oft sind es nur vermeintliche Kleinigkeiten, die wie Schmetterlingsflügel Imperien zum Einsturz bringen. Das Spiel, mit dem Red die subtile Manipulation der Zeitstränge vergleicht, ist nicht Schach, sondern Go.

»She plays a tenuous game, this strand. As she knots and thinks to herself, she decides she would describe it using terms from Go: You place each stone expecting it may do many things. A strike is also a block is also a different strike. A confession is also a dare is also a compulsion.« [S. 68]

10 hoch 171 ist die Anzahl der möglichen Stellungen auf einem Go-Brett und jeder Zug ist Berechnung und Ungewissheit zugleich. In diesem Multiversum fangen sich die beiden kühlen Vollstrecker gegenseitig in einem Katz und Maus Spiel, einem Duell aus Necken und Provozieren, aus Distanz und Nähe – die Quintessenz der Verführung. Red und Blue beginnen, Botschaften an den jeweils anderen in ihrem Spiel zu verstecken. Nach Außen hin unversöhnliche Feindinnen verschicken sie heimliche Briefe, die ihren Kriegsherren und Auftraggebern entgehen.

This is How You Lose the Time War berichtet uns über dieses Verhältnis hauptsächlich durch diese Briefe. Gladstone und El-Mohtar entfalten eine Brieffreundschaft unerhörter Raffinesse. Botschaften im Klang des Windes, in den Ringen eines alten Baumes oder dem Kreisen der Teeblätter in einer Tasse feinsten Porzellans. Für die Zeitsoldatinnen sind die Welten selbst die Leinwände ihrer Gefühle füreinander. Und je mehr sie die andere kennenlernen, desto mehr öffnen sie sich, offenbaren ihre Träume und Sehnsüchte. Wie zwei Teenager, die zum ersten Mal wahre Liebe entdecken, sind sie zugleich erschrocken über das unbekannte Terrain, das sie betreten. 

»I feel – I can’t say precisely what. I’m shaken. You know the edges of old maps that promise monsters and mermaids? Here there be dragons?« [S. 81]

Welch schönere Metapher könnte es geben für den Mut, den die Liebe von uns fordert? Beide wagen sich mit vorsichtigen Schritten in die entstehende Liebe, denn sie sind auf der Flucht vor einem gemeinsamen Feind: der Einsamkeit des Soldaten. Als Agentinnen des Zeitkrieges sind sie nur Werkzeuge, wertvolle Figuren eines Spieles, dessen Regeln und Züge sie nicht bestimmen. In ihrem Briefwechsel finden Red und Blue zum ersten Mal einen Gegenentwurf zu einem multidimensionalen Krieg, in dem letztlich nichts Bestand und Sinn hat.

»In the war they wage through time, what lasting advantage comes from murdering ghosts, who, with a slight shift of threads, will return to life or live different lives … Repetitive task, murder. Kill them and kill them again, like weeds, all the little monsters.« [S. 175]

Doch die Liebe von Red und Blue ist unmöglich. Es ist eine Liebe unter Kriegsgegnern, die nicht sein darf. In ihrer Sehnsucht, gemeinsam das Schlachtfeld zu verlassen, machen sie sich den Krieg selbst zum Feind. Die Kriegsparteien sind elementare Antagonismen, die weit flussabwärts in einer entfernten Zeit alles daran setzen, die jeweils anderen Zukünfte und Möglichkeiten niemals geschehen zu lassen. Auf der einen Seite die alles umsorgende, steuernde Matrix eines perfekten technophilen Endzustandes; auf der anderen der Sieg des Lebens über alles Unbelebte, ein grenzenlos umschlingender organischer Kosmos aus ewigem Vergehen und Werden. Biosphäre contra Technosphäre, die wie These und Antithese gegeneinander stehen. 

Zwischen diesen Welten scheint kein Kompromiss und keine Annäherung möglich. Für diese Gegner ergeben Romantik, Verführung und Liebe nur als verzuckertes Gift einen Sinn, sie kennen weder Empathie noch Gnade für einen Agenten des Feindes. Und wer spätestens hier beginnt, an Romeo und Julia zu denken, a pair of star-cross'd lovers, liegt nicht so falsch. Zwei Liebende, vom Unstern bedroht, nicht nur in fair Verona, sondern in allen Zeiten und Dimensionen. Doch während die Zuschauer des Elisabethanischen Zeitalters nicht nur keine Probleme mit Spoilern hatten, sondern diese sogar erwarteten, führen El-Mohtar und Gladstone den Leser in eine Ungewissheit aus Sehnsucht und Zweifeln. Was, wenn all dies nur ein perfider Trick der Gegenseite ist? »The best way to find out if you can trust somebody is to trust them«, schreibt Ernest Hemingway. Die wachsende Spannung dieser Liebesgeschichte entsteht durch diese elementare Unsicherheit, die nur durch einen mutigen Sprung in völliges Vertrauen gebannt werden könnte.

Die Geschichte, die uns Amal El-Mohtar und Max Gladstone erzählen, zeigt, was für eine großartige Länge eine Novelle hat. Ein Zwischenschritt zwischen einem überlangen Roman, den nur sehr wenige wirklich füllen können, und dem Hunger nach Mehr, den eine großartige Kurzgeschichte in uns zurücklässt. 

El-Mothar und Gladstone schreiben in einer eleganten, poetisch fließenden Sprache, weit über dem Durchschnitt des Genres und in einer Liga mit Sofia Samatar, Naomi Novik, Neil Gaiman, David Mitchell oder Ursula K. LeGuin. Manche Passagen war ich versucht, mir vorzulesen, um der Satzmelodie zu lauschen. Im SF Genre wird vielleicht etwas zu selten über Stil geredet und das finde ich schade, denn hier liegt der Schlüssel, den eine Geschichte zu unserem Herzen hat.

»I have been birds and branches. I have been bees and wolves. I have been ether flooding the void between stars, tangling their breath into networks of song. I have been fish and plankton and humus, and all these have been me.« [S. 72]

In allererste Linie aber ist diese Novelle eine Liebeserklärung an den Brief, jenes verzögerte Gespräch zwischen zwei Menschen; an die Zweifel und Sehnsüchte, die jeden Liebesbrief begleiten. Kein schneller Chat, sondern ein Bangen und Warten auf Antwort und Gegen-Antwort. Ein elegantes Medium aus zivilisierteren Tagen. Gladstone und El-Mothar transportieren das alte, klassische Format des Brief-Romans in die Multiversen eines schillernden und originellen SF Sujets und lassen uns auf eindrucksvolle Weise die Kraft des geschriebenen Wortes spüren. 

»… to read your letters is to gather flowers from within myself, pluck a blossom here, a fern there, arrange and rearrange them in ways to suit a sunny room.« [S. 90]

»A letter is more than text. She read Blue into her: tears, breath, skin – most of these traces were scrubbed away, but a few remain. She builds a model of Blue’s mind from the words she left.« [S. 183]

Mit ihrer Novelle haben Amal El-Mohtar und Max Gladstone einen Klassiker geschaffen, den man auch in vielen Jahren noch kennen und lesen wird. This is How You Lose the Time War wird zurecht einen sicheren Platz in zukünftigen »Best of …« Sammlungen einnehmen.

Donnerstag, 20. August 2020

Die bunte Mauer

      (Diese sehr kurze Geschichte muss ich Anfang der 90er Jahre geschrieben haben. Ich vermute 91', aber ganz sicher bin ich nicht. Worum es geht, wird schnell offensichtlich. Natürlich habe ich heute eine große Distanz zu meinen alten Texten, sie sind eher ein interessanter, manchmal etwas belustigter Blick auf ein jüngeres Selbst in einem anderen Zeitgeist. Mit der Distanz der Jahre sehe ich heute auch, wie fremd und weit entfernt mir vieles der bewegten Jahre von 89/90 damals war … und auch, welche Autoren ich damals besonders verehrte. Trotzdem mag ich diesen kleinen Text irgendwie bis heute. Und da ich "Die bunte Mauer" meines Wissens nie irgendwo veröffentlicht habe, poste ich den Text hier anlässlich meines ersten Throwback Thursday.)
 
 
    »Und was ist das?«
    »Eine Mauer.«
    »Bunt.«
    »Ja, das ist sie.« Wie zur Bekräftigung öffnete Leutnant Elegance eine Flasche Champagner, die er bis zu diesem Augenblick in den Falten seines weiten Uniformmantels verborgen hatte. »Doch dieses Stück ist nur ein armseliger Überrest«, fuhr er fort. »Man sagt, früher habe sie den ganzen Kontinent durchzogen.«
    »Wie aufregend.« Lady Priscin Carol Habermann ließ ihr Zigarettenetui mit einem leisen 'Schnapp' aufklappen, gefolgt von einer antiken Melodie. 
Leutnant Elegance hielt zwei Champagnergläser in der Hand und goss ein. »Es ist mir eine besondere Ehre, hier mit ihnen zu trinken, Lady Habermann.«
    »Danke.« Lady Priscin Carol Habermann lächelte und blies einige wunderschöne Rauchringe. Ihr Blut war aristokratisch, über jeden Zweifel erhaben. Ebenso wie Leutnant Elegance' Uniform.
    »Wozu war sie gut?«, fragte Lady Habermann und nippte an ihrem Glas.
    »Schwierig zu sagen. Es hatte etwas mit Bananen zu tun.«
    »Mit Bananen?« Amüsiert blickte Lady Habermann auf die bunten Zeichnungen an der Mauer, während sie über den knirschenden Schnee gingen. Der Himmel war grau und tief. Die Kälte verlieh ihren Gesichtern einen bleichen Schein und Wölkchen gefrorenen Atems tummelten sich über ihren Köpfen.
    »Das schmeckt gut.« Lady Habermann blickte in ihr Champagnerglas. »Warum haben sie es bis jetzt verborgen?«
    »Er ist aus Tunis.« Leutnant Elegance schmunzelte. »Doch zum Wohl.«
    »Zum Wohl.« Die Gläser waren leicht beschlagen. »Erzählen sie mir etwas über die Bananen, Leutnant Elegance«, bat Lady Priscin Carol Habermann und spannte ihren kleinen Schirm auf, denn ein leichter Schneefall hatte eingesetzt.
    »Bananen waren damals sehr wertvoll.« Leutnant Elegance zündete sich eine Zigarre an. »Doch sie waren ungleich verteilt.«
    »Wie ungerecht.«
    »Das fand man damals auch. Auf der bunten Seite der Mauer«, Leutnant Elegance zeigte nach rechts, »lebte ein Volk, das sich 'Bananenrepublik' nannte.«
    »Oh«, sagte Lady Priscin Carol Habermann. 
Wie schön ihr 'Oh' doch ist, dachte sich Leutnant Elegance und zog an seiner Zigarre. »Auf der anderen Seite«, erklärte er weiter und deutete mit seinem weißen Handschuh nach links, »lebte ein Volk, das nur aus Arbeitern und Bauern bestand.«
    »Wie romantisch.« Lady Habermann und klappte wieder ihr Zigarettenetui auf, nur um die schöne Melodie zu hören. Die zarten Klänge erfüllten die kalte Luft.
Das Stück Mauer war etwa zwanzig Meter lang. Sie waren am Ende angekommen und gingen auf der anderen Seite zurück. Lady Habermann stellte enttäuscht fest, dass die Mauer auf der Rückseite gar nicht so bunt war.
    »Die Menschen in der Bananenrepublik hatten, wie der Name schon sagt, alle Bananen gehortet.« Leutnant Elegance hielt einen Moment inne und strich sich über den Schnurrbart. »Natürlich fanden die Arbeiter und Bauern das sehr ungerecht.«
    »In der Tat.«
    »Ja, und deshalb kam es zur großen Revolution.«
    »Oh.« Lady Priscin Carol Habermann blickte ein wenig schockiert zum Leutnant. »Gab es viele Tote?«
    »Vermutlich.« Leutnant Elegance machte eine weitschweifende Geste mit seiner Hand. »Sie wissen doch, wie das im Krieg ist.«
    »Haben sie die Bananenrepublik erobert?« wollte Lady Habermann wissen.
    »Das war seltsam«, sagte der Leutnant. »Zunächst eroberten sie ihr eigenes Land, und dann verließen sie es alle. Die Menschen in der Bananenrepublik hießen sie aufs herzlichste Willkommen. Eine Zeit lang war es deshalb sehr leer auf der einen Seite.«
Lady Priscin Carol Habermann blickte gedankenversunken über die weite Ebene und versuchte, sich ein leeres Land vorzustellen. »Aber sie hatten alle Bananen?«
    »Ja und Nein«, erwiderte der Leutnant. »Die Menschen in der Bananenrepublik hatten ja sozusagen gewonnen, deshalb konnten sie die Bedingungen diktieren.«
    »So ist es halt«, seufzte Lady Habermann während sie durch den unberührten Schnee gingen.
    »Ja, so ist es.« Leutnant Elegance drückte den Zigarrenstummel mit dem Absatz seines Reitstiefels aus. »Noch etwas Champagner?«
    »Ja, gerne.«
    »Nun, die Bedingung war folgende«, nahm Leutnant Elegance den Faden seiner Erzählung wieder auf. »Alle Arbeiter und Bauern sollten fortan ebenso Bananen horten, sonst würden sie keine Hilfe bekommen.«
    »Hilfe wofür?«
    »Für‘s Bananen horten.«
    »Das klingt seltsam, aber doch eigentlich gar nicht so schlimm.«
    »Das dachten die Menschen damals auch. Doch dann geschah das Furchtbare.«
    »Furchtbar?« Lady Priscin Carol Habermann mochte die Art, wie der Leutnant das Wort aussprach. Er tat es so, wie es nur ein Leutnant aussprechen konnte, mit jenem Nachhall von Erfahrung und Erinnerung eines weit gereisten Mannes.
    »Ja, furchtbar«, sagte der Leutnant nochmals. »Auf ihr Wohl, Lady Priscin Carol Habermann.«
    »Auf ihr Wohl, Leutnant.« Das 'Pling' zweier Champagnergläser stand für einen kurzen Moment in der Luft. Sie waren wieder am Ende der Mauer angelangt.
    »Wissen sie, Lady Habermann«, erzählte der Leutnant. »Sie alle starben.«
    »Wie schrecklich.« Lady Habermann fröstelte. Sie wickelte ihren Schal ein wenig fester. »Was hatten sie falsch gemacht?«
Leutnant Elegance öffnete Lady Habermann die Tür ihres Wagens, in seiner unverwechselbar zuvorkommenden Art.
    »Danke«, sagte Lady Habermann.
    »Es kam so, wie es kommen musste«, meinte der Leutnant, während er der Lady in das Auto half. »Sie starben alle an Bananenvergiftung.«
Lady Priscin Carol Habermann schwieg, bis Leutnant Elegance den Wagen angeworfen hatte. Leise tuckernd entfernten sie sich von der Mauer.
    »Wie dumm«, sagte sie dann. »Aber so ist das halt.«
    »Ja, so ist das halt«, antwortete der Leutnant.
Der Schnee fiel nun dicht und flockig, und im Hotel warteten schon ein warmer Kamin und ein Glas Portwein auf sie.

Montag, 17. August 2020

Ein Mann und seine Mission

Martial Arts Western, Pulp Fiction, Road Movie und Hard SF – Paul McAuley mischt einen Kessel Buntes

 
Ein alter Mann in einem staubigen Ledermantel nähert sich misstrauisch einem einsamen Gehöft. Die Gebäude unter der heißen Mittagssonne sind verlassen, ein Kampf hat stattgefunden. Das Gefühl drohender Gefahr liegt wie Hitzeflimmen über der Szenerie. Die Leichen zweier Männer hängen an einem Feigenbaum, der einen alten Brunnen beschattet. Hungrig bedient sich der einsame Reisende an den spärlichen Resten häuslicher Vorräte. Als er wieder aus dem Gebäude tritt, sieht er am Horizont eine Gruppe Reiter, die sich langsam nähern …
 
Für alle, die gerne Musik beim Lesen hören, ist ein Soundtrack von Ennio Morricone sicher eine adäquate Wahl für die ersten Kapitel von Paul McAuleys Roman War of the Maps. McAulay ist die Lust an der Kulisse anzumerken, viele der Szenen wirken wie aus einem zynischen, desillusionierten Spätwestern.

»… two men hanging from one of the branches high above, nooses tight under their chins, arms tied behind their backs, dressed in patched and much-washed cotton shirts and trousers. Flies orbited their heads, crawled over eyeless sockets and teeth exposed by rictus grins. Hard to tell how long they had been dead. Several days at least, maybe more.« (S. 53)

 
Auch die klare und lineare Story könnte aus einem Italo-Western stammen. Ein Mann auf der Jagd und zugleich auf der Flucht. Thorn ist ein ehemaliger Lucidor, ein Lawkeeper aus einem weit entfernten Land. Ein alternder Ex-Sheriff auf der Suche nach einem entflohenen Massenmörder, einem alten Fall voller offener Rechnungen. 

Thorn auf den Fersen: sein altes Leben, ehemalige Kollegen, die ihn stoppen und zurückbringen sollen. Die vermeintliche Flucht des Mörders, den Thorn einst hinter Gitter brachte, war keine. Sie war ein schmutziger Deal unter Regierungen, im Kampf gegen eine fremdartige Invasion. Doch diese Art von Deal ist mit Lucidor Thorn nicht zu machen. McAuley erweist dem klassischen Cinemaskop-Western nicht nur mit Plot und Kulissen Referenz. Sein Held hat einen klaren Kompass, der durch nichts und niemanden zu erschüttern ist. Er ist der Gute und er weiß es. Einer wie er arbeitet nicht für Geld und akzeptiert keine Autoritäten, die nicht seinem moralischem Weltbild entsprechen.

 »One of the lone dogs that the department found useful until they crossed a line or butted against an immovable authority, as they almost always did. They never attained the highest ranks, worked cases others had long ago abandoned, and often wrecked their careers or were sidelined or dismissed after upsetting someone in power or ignoring the chain of command.« (S. 51) 

»He’d had his own agenda, had been stubbornly faithful to the damned code of honour which some might say had killed him in the end« (S. 389)

Der Leser ahnt, dass Thorns Sehnsucht nach Gerechtigkeit den Geschmack einer Tragödie hat. Die Erinnerungen an seine tote Frau begleiten ihn ebenso wie unzählige innere und äußere Verwundungen. Nichts kann ihn mehr über die Wahrheiten des Lebens hinwegtäuschen.

» ‚But an important part of growing old is accepting without regret that all lives end in some kind of failure. We never do everything we hoped to do, or do what we have done as well as we would have liked.‘« (S. 117)

Eine Figur wie Thorn lädt geradezu dazu ein, ihn mit Vorbildern und Archetypen der Filmgeschichte zu besetzen. Doch beim Lesen hatte ich keinen Mundharmonika spielenden Charles Bronson vor Augen und auch keinen einsamen Reiter wie Clint Eastwood. Für mich ist Thorn die gealterte Inkarnation von David Carradine aus der TV Serie Kung Fu und dies nicht nur wegens seines Kampfstabes, mit dem der Lucidor in bester Martial Arts Manier reihenweise Gegner außer Gefecht setzt. Hinter Thorns lakonischem Lächeln verbergen sich eine Menge wortkarger Aphorismen und eine klare Philosophie. Thorn kommt aus den Free States, einer egalitären, leicht sozialistisch angehauchten Nation ehemaliger Sklaven, die einen krasser Kontrast zu den autoritären Regimen bildet, mit denen er sich im Verlauf der Geschichte arrangieren muss.

McAuley lässt die Erkennungszeichen und Versatzstücke des Science-Fiction-Genres nur langsam einsickern. Auf seinem Weg durchwandert der Lucidor eine Welt, die uns bekannt und zugleich fremd ist. Bekannt durch die unzähligen Western-Referenzen, die bald um asiatische Stadtkulissen aus der Zeit des Boxeraufstandes erweitert werden. Fremd wird sie durch die fast beiläufig platzierten Hinweise, dass es sich hier eben nicht um den wohlbekannten Rahmen einer wohlbekannten Geschichte handelt. Statt der erbarmungslos brennenden Mittagssonne wandert ein Ring aus künstlichen Spiegeln über den Himmel, Gesetzlose feuern mit Blazern, psychisch begabte Menschen – zu denen mir nur das Wort Mutanten einfällt – nutzen ihre Fähigkeiten auf beiden Seiten des Gesetzes. Technische Artefakte wie Puls Engines, Mikroskope und Gen-Sequencer werden genutzt, ohne richtig verstanden zu werden. Es sind Hinterlassenschaften der legendären und immer noch verehrten Godlings. Geheimnisvolle Über-Wesen, für welche diese Welt vor Jahrtausenden wohl eine Art Erlebnispark war, bevor sie sich gelangweilt vom kosmischen Acker machten und ihre Spielzeuge sich selbst überließen. 

Wer auf Erklärungen wartet, der wartet vergebens. Dem erfahrenen Leser ist klar: Hinter den Kulissen ist fortschrittlichste Hard SF am Werk. Wir befinden uns auf einer gigantischen Dyson-Sphäre, errichtet um den heißen Kern eines sterbenden Sternes. Und wir befinden uns in einer extrem weit entfernten Zukunft, kurz vor dem entropischen Altersruhestand. Hier hebt McAuley das Motiv des Spätwesterns auf die kosmische Bühne. Alles ist längst geschehen, alle Taten vollbracht. 

»So much time has passed since the universe hatched from the cosmic egg that countless races have been able to bootstrap themselves to godhood. Every Star in our galaxy, every world, has been visited, used or changed by some kind of god.« (S. 383)

Die genauen Hintergründe und wissenschaftlichen Zusammenhänge bleiben dem Leser ebenso verschlossen wie den Bewohnern dieser künstlichen Welt. Einzelne »Philosophen« versuchen, rationalen Sinn in ihrer Welt und den Hinterlassenschaften der Godlings zu finden, doch ihre kleinen Fortschritte sind mühsam. Bei so viel Sense of Wonder bleibt eben nur das Wundern.

Nur einer hebt sich von allen ab: Remfrey He, der soziopathische Massenmörder, dem der Ex-Sheriff auf der Spur ist. Thorns Nemesis ist ein böses Genie und Genies werden dringend gebraucht, denn die Welt wird durch eine Invasion aus dem All bedroht. Fremde Gene verändern das Leben und wandeln es in einen Gruppenorganismus, der die Dyson-Sphäre effektiv und unempathisch wie ein Ameisenstaat unterwirft. A Virus is only doing it’s job. »Maps«, die Karten, die dem Roman den Titel geben, sind keine Landkarten, sondern Gen-Karten. Baupläne des Lebens, die nur von den mentalbegabten Map-Readern gelesen und verstanden werden können. Der War of the Maps ist der Kampf um die Ökosphäre und damit um die Zukunft dieser künstlichen Welt. 

In der Schilderung der sich ausbreitenden Bio-Freak-Show scheint sich McAuley mit Lust an ein weiteres klassisches Genre anzulehnen: die comichaft grotesken Klischees der Pulp SF-Magazine und B-Picture, mit ihren Covern und Plakaten voller »unsagbarer Kreaturen«.

»Red crabs big as horses, enormous claws raised like boxers’ fists. Bloated bags squatting on clusters of restless tentacles. Bell-shaped translucent jellies … Balls got up from armour plates, teetering on spiky tripods. Child-sized things that appeared to be wearing their internal organs on the outside.« (S. 344)

Für mich ist schwer vorstellbar, dass McAuley die Sache hier völlig ernst nimmt. Eher bin ich versucht, die 3D-Brille gerade zu rücken und nach Chips und Drogen zu greifen. Remfrey He, den die autokratische Monarchie Patua dieser Bio-Invasion entgegenstellen möchte (man hat den Superschurken quasi ausgeliehen), ist ebenso jenseits von Gut und Böse wie der Gegner; dabei jedoch eitel, arrogant, narzisstisch und verlogen. Ein Mad Scientist in bösartigster Reinform, eine bizarre Mischung aus Josef Mengele und Joker. Und wie Letzterer ist er auch kein besonders zuverlässiger Bundesgenosse und entpuppt sich schnell als der Geist, den man wohl doch lieber nicht gerufen hätte. Was Lucidor Thorn zahlreiche »ich hab’s euch gleich gesagt« Momente verschafft. 

So ist die Grundmechanik der Handlung letztlich simpel: Guter verfolgt Bösen, der aber vielleicht die Welt retten kann und damit irgendwie ja auch ein Guter wäre. Ob das den Guten zum Umdenken bringt? Diese Frage stellen sich Feinde, Freunde und Weggefährten von Lucidor Thorn. Der Leser allerdings nicht. Gut und Böse in dieser Geschichte sind frei von Zwischentönen. Man tut gut daran, die oberflächliche Klarheit der Personen von Anfang an Ernst zu nehmen. Sie hat keinen doppelten Boden. War of the Maps ist letztlich vor allem die Geschichte einer unverrückbaren Feindschaft, in der die Fronten scharf und hart wie eine Diamantklinge sind. Als Protagonisten eines Entweder-oder sind Remfrey He und Thorn Anachronismen in einer Welt unaufhörlichen kulturellen und biologischen Wandels. Der Sheriff und der Massenmörder wirken wie die binären Größen des ewigen Kampfes zwischen Gut und Böse. Das Schwarz-weiß der einleitenden Westernklischees wird im Laufe der Handlung zum Kampf um die Schöpfung selbst. 

Auf diese Weise verwehrt McAuley den beiden Hauptfiguren jedoch auch jede innere Entwicklung. Starr haben sie ihre Seiten und Wahrheiten schon lange vor Beginn der Handlung gewählt und folgen diesem Kompass mit teilweise ermüdender Beharrlichkeit. Der Lucidor zum Ende des Romans ist im Grunde derselbe, wie wir ihn zu Beginn kennenlernen, wenn auch in gesundheitlich schlechterem Zustand. Doch Alter, Krankheit und Verletzungen können hier keine Charakterentwicklung ersetzen.

Nimmt man Ursula K. LeGuins Bestimmung eines Romans als Schilderung der Veränderung eines Menschen, dann bleibt McAuley uns dies schuldig. Und hier beginnen auch kleinere Schwierigkeiten, die ich mit dem Roman hatte. Vor allem der zu lang geratene Mittelteil plagte mich durch Langeweile. Wenn nichts passiert als Schauplatzwechsel und austauschbare Gefahren, passiert im Grunde recht wenig. Fehlt die innere Entwicklung der Hauptperson, dann fehlt genau das, was einen Roman von »unterhaltsam« zu »wirklich gut« erhebt. Dieser Roman ist unterhaltsam, aber um mich 400 Seiten mit emotionaler Anteilnahme lesen zu lassen, braucht es genau das: emotionale Anteilnahme. Und hier bleibt der Roman leider in seinen Western-Zitaten und Pulp-Reminiszenzen stecken. Eindimensionale Figuren ergeben eine eindimensionale Geschichte und damit jenseits der 200 Seiten zwangsläufig eine gewisse Eintönigkeit. So hätte der Roman mehr Charakterentwicklung oder weniger Seiten gebraucht, um mich wirklich zu begeistern. War of the Maps bleibt jedoch ein unterhaltsamer Reigen fremder Kulturen, bizarrer Einfälle und weitgestreuter Genre-Zitate. Und David Carradine war einfach eine coole Sau. Das mag auch mal genügen.


Dienstag, 7. Juli 2020

Die Welt ist eine Erzählung

Um die Wirklichkeit zu verstehen, müssen wir eine Geschichte erzählen.

Die Narration ist die unmittelbarste und umfassendste Annäherung an Wirklichkeiten und Zukünfte. Nur die Erzählung bezieht den subjektiven Innenraum einer Situation mit ein: die Gefühls- und Erlebenswelt. Da keiner von uns jemals diese Perspektive verlassen kann, ist die Narration für uns die wirklichste Wiedergabe einer Situation. Wenn wir auf den Fortgang und die Zusammenhänge unseres Lebens blicken, sehen wir keine Dokumentation, Statistik oder Analyse. Unser Leben erscheint uns gleichsam als eine Art Erzählung. Nur in der Narration können wir deshalb den vollen Realitätsumfang erspüren. Die unpersonale Analyse hat wichtige Funktionen für das Verständnis komplexer Sachverhalte, sie ist aber auch wie das Kochrezept im Vergleich zum Erleben des Essens.

Um den Versuch zu wagen, die Konsequenzen eines Sachverhaltes angemessen einzuschätzen, müssen wir das Erfühlen einbeziehen. Uns besinnen auf den ganzheitlichen Zugang zu den Umständen der Welt, wie sie uns nur die Narration ermöglicht, da nur sie aus der gleichen Richtung auf die Wirklichkeit blickt wie wir.

Kritischer Rationalismus und Wissenschaften öffnen die Welt für das Bewusstsein, aber die Erzählung öffnet den Geist für die Welt.

Will man die volle Bedeutung der Dinge verstehen, die unser Leben formen, muss man eine Geschichte darüber erzählen.

Mittwoch, 1. Juli 2020

"Wurde Ihnen gestattet, ein Interview zu führen?" – Sehenwerte Doku über Peking im Lockdown

Link zur Doku:


Unsere Siege – und Niederlagen – gegen Corona sind jene einer Gesellschaft, die über Konsens, Freiwilligkeit und Demokratie funktioniert. Einige Zuschauer, die in dieser Arte-Doku von Sébastian le Belzic einen Blick nach China werfen, werden sicher begeistert denken: Ja genau, so muss man das machen! Aber mir läuft es kalt den Rücken runter.

Eine unheimliche Mischung aus Bespitzelung im Sowjet-Style durch privilegierte Underlinge (aka "Nachbarschaftskomitees") mit lückenloser digitaler Totalüberwachung. Blogger, die auf Nimmer Wiedersehen aus der Quarantäne verschwinden, nachdem sie in einer letzten Botschaft mit Tränen in den Augen der Geheimpolizei den Finger gezeigt haben.

Wenn wir hier das global dominierende Gesellschaftsmodell des 21. Jahrhunderts sehen, kommen schwierige Zeiten auf uns zu. Dann lieber der selbstbestimmte, fehlerhafte, tastende und nervenaufreibende Weg einer freien Demokratie. Das utopische Streben nach Perfektion und absoluter Sicherheit war stets der Antrieb eines dystopischen Regimes. Wenn alles klappen muss, stirbt die Freiheit.

Sehenswert! – Nur der Titel, "Peking atmet auf", ist ein wenig seltsam.

Montag, 29. Juni 2020

Bildung, Lesevergnügen und Corona

Eigentlich gehöre ich zu den Menschen, die Lockangeboten skeptisch gegenüber stehen. Doch dieses Mal kam das Angebot wohl genau im richtigen Moment. Zehn Ausgaben für 15 Euro sind wirklich sehr günstig. Es war eine Zeit, als ich (wie viele andere) ein großes Bedürfnis hatte, wissenschaftlich präzise, verständliche Informationen über dieses komische neue Virus zu lesen. So richtig wusste man noch nicht, was auf einen zukommt, aber es wurde langsam unheimlich.

Ich kannte den New Scientist schon von der ein oder anderen Zugfahrt und habe ihn immer gerne gelesen. Bei 1,50 pro Ausgabe, dachte ich, kann ich also nichts falsch machen. Mittlerweile sind die zehn Ausgaben rum und ich habe ein Jahresabo abgeschlossen. Das geschickt platzierte Lockangebot hat also voll funktioniert … ich bin aber froh darüber und bereue es nicht. In den zurückliegenden Monaten war der New Scientist meine wichtigste Infoquelle in Sachen Covid-19: wissenschaftlich fundiert, differenziert und durch den wöchentlichen Erscheinungstermin top-aktuell.

Jetzt freue ich mich jeden Freitag darauf, die neue Nummer aus dem Briefkasten zu ziehen. Ich hätte auch ein reines Digital-Abo abschließen können, aber ich bin halt ein Papiermensch und halte am liebsten ein »richtiges« Magazin in der Hand. Während die Corona-Krise immer schlimmer wurde, kam nicht jede Ausgabe pünktlich (und bis heute sind sie noch etwas aus dem Takt), aber das nehme ich gerne in Kauf. Diese Redaktion hat übermenschliches geleistet und quasi im Home Office jede Woche eine spannende Ausgabe zusammengestellt.

Schön finde ich das breite thematische Spektrum. Astronomie, Quantenphysik, Biologie, Genetik … aber auch Ökologie, Anthropologie, Archäologie, Soziologie oder Psychologie. Natürlich ist nicht in jeder Ausgabe alles enthalten, aber mit der Zeit kommt fast jedes Fachgebiet vor. Die Redakteure können sehr unterhaltsam schreiben und bringen einem jedes Thema näher. Man bekommt einen fundierten, spannenden Überblick über eine Menge super interessanter Themen. In einer kleinen, aber gut sortierten "Culture"-Rubrik werden einem sogar der ein oder andere SF-Roman, Film oder TV-Serie empfohlen, die der Redaktion gefallen haben.

Das Magazin ist also weniger etwas für nüchterne Laborkittel mit einem Faible für Formelsammlungen, sondern genau das Richtige für einen notorisch neugierigen Menschen wie mich.