Donnerstag, 4. Februar 2021

Das Leben ist ein Ponyhof

       (Diese kurze Geschichte ist vor fünf Jahren aus einer kleinen Schreibübung entstanden. Vor kurzem bin ich wieder darüber gestolpert und musste feststellen, dass ich sie mag.)

Sie war einfach nicht schnell genug.

Mit jeder Ecke, jedem Zögern und jeder falschen Abzweigung, die Maura nahm, kam der Gorg näher. Längst hatte sie ihre Sandalen zurückgelassen und rannte barfuß über die Steinplatten. Es war ihr egal, ob der Gorg die Sandalen fand. Maura war sich sicher, dass er ihr ohnehin folgen konnte wie ein Bluthund.

Sie musste einen Ausgang finden. Doch in diesem Labyrinth schien es kein Entkommen zu geben.

Ich bin nur ein kleines Mädchen! wollte sie schreien. Das ist nicht fair!

Doch der Gorg kümmerte sich nicht um Fairness. Er hatte Hunger. Hunger und scharfe Zähne.

Immer links herum, hatte ihr großer Bruder einmal erzählt. Wenn man in einem Labyrinth ist, soll man immer links abbiegen. Maura war sich sicher, dass dieser Ratschlag sie tiefer hineingeführt hatte. Immer weiter von einem Ausgang entfernt. Wenn es hier überhaupt einen Ausgang gab.

Die hübschen Zöpfe, die ihre Mutter geflochten hatten, waren nur noch ein blonder Wust. Maura schwitzte und hatte Seitenstiche. Um diese Ecke noch. Sie war sich sicher, dass sie an dieser Abzweigung noch nie gewesen war.

Schon wieder eine Sackgasse.

Enttäuscht und zornig schlug Maura gegen die Wand. Tränen liefen über ihr Gesicht. Es ging nicht mehr. Sie konnte keinen Schritt mehr laufen. Sie wollte keinen Schritt mehr laufen. Es war vorbei.

Sie lauschte auf ihren Verfolger. Besondere Mühe musste sie sich nicht geben. Die patschenden Schritte des Gorg waren bereits deutlich zu hören.

Erschöpft setzte sich Maura auf den Boden. Ich bin nur ein kleines Mädchen, dachte sie matt. Und jetzt werde ich gefressen.

Bald schon hörte sie das Schnauben und Knurren des Gorg, dann schob sich der massige Körper des Ungeheuers um die Ecke.

Der Gorg war groß, widerlich und sabberte. Sein Leib füllte fast den kompletten Gang aus.

»Hallo … Mädchen«, gurgelte er und trieb Wolken nassen Gestanks vor sich her.

Was sollte sie tun? Hätte sie doch bloß auf ihre Eltern gehört.

Langsam kam der Gorg näher. Gräulicher Schleim tropfte von seinen Hauern, die Krallen seiner Hinterläufe scharrten über den Stein. Winzige Augen musterten sie begehrlich.

Maura hätte sich am liebsten übergeben.

»Bitte …«, flüsterte sie. »Friss mich nicht.«

Der Gorg klappte schmatzend seine Kiefer zu und wieder auf. »Doch.«

Hoffentlich tut es nicht weh, dachte Maura.

Wie ein stinkender Berg türmte sich das Untier über ihr auf und öffnete seine Vorderpranken, um das kleine Mädchen zu ergreifen.

Maura schloss die Augen.

Als sie ein überraschtes Grunzen hörte, öffnete sie die Augen wieder. Der Gorg hatte innegehalten und fixierte sie.

»Was ist das?«, fragte er dumpf.

Ein kleines Mädchen, du hirnloser Fleischberg.

Mit einer verhornten Kralle tippte der Gorg Maura überraschend sanft an die Brust.

»Was ist das?«, wiederholte er seine Frage.

Verblüfft blickte Maura auf ihr T-Shirt. »Das? Äh … ein rosa Einhorn.«

»Rosa. Einhorn … «, grollte der Gorg. Maura glaubte, Ehrfurcht in seiner animalischen Stimme zu hören. »Einhorn«, wiederholte der Gorg und das Glitzern in seinen Augen veränderte sich.

»Ja«, sagte Maura und war froh, ein wenig Zeit zu gewinnen. »Bei uns gibt es das überall. Ich habe auch ein Federmäppchen mit einem rosa Einhorn und Anna-Lena …«

»Wie schmeckt es?« Gierig beugte sich der Gorg vor und Schleim tropfte auf Mauras Knie.

»Wie es schmeckt?« Maura war verwirrt. »Das ist nicht zum Essen.«

»Schade.« Der Gorg seufzte und holte mit seinen Pranken aus, um Maura zu zerquetschen.

»Moment!«, schrie Maura im letzten Moment. »Natürlich kann man es essen. Ich weiß, wie es schmeckt. Es ist das Leckerste, was es überhaupt gibt.«

Zitternd erhob sie sich und durchsuchte hektisch die Taschen ihrer Jeans, bis sie das kleine Zuckertütchen gefunden hatte, das sie auf dieser verfluchten Autobahnraststätte eingesteckt hatte.

»So schmeckt rosa Einhorn«, sagte sie und riss das Tütchen auf. »Pfote her.«

Der Gorg öffnete seine Pranke und Maura schüttet die kleine Portion Zucker hinein.

Langsam ließ das Ungeheuer seine schleimige Zunge darüber gleiten. Seine Augen weiteten sich. Ein dunkles Schnurren ließ seinen Körper erzittern wie eine fette Katze.

»So schmeckt rosa Einhorn?«

Maura nickte eifrig.

Für einen Moment war der Gorg still.

»Komm mit, Mädchen«, brummte er dann.

»Wohin?«

»Nach draußen. Bring mich zu den rosa Einhörnern.« 

»Na klar, Gorg«, sagte Maura erleichtert. Hauptsache raus. Der Rest würde sich ergeben.

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