Dienstag, 28. März 2023

Die Sehnsucht nach einem Feind

Eine Frau aus der sozialen Unterschicht Sydneys wird zum Opfer einer Jagd auf Terroristen. Der traurige, verstörende Roman The Unknown Terrorist von Richard Flanagan ist die bittere Analyse eines menschenfeindlichen »Kriegs gegen den Terror«. 

Es gibt Romane, bei denen von Anfang an spürbar ist, dass sie auf üble Weise enden werden. Die Frage ist nur, wie schlimm das Ende sein wird und ob die Geschichte irgendeine Form von poetischer Gerechtigkeit bereithalten wird. The Unknown Terrorist ist der zweite Roman von Richard Flanagan, den ich gelesen habe. Ebenso wie A Narrow Road To The Deep North ist mir diese Geschichte unter die Haut gegangen. Ich kenne nur wenige Autoren und Autorinnen, die so schmerzhaft zupacken können.

The Unknown Terrorist ist die Geschichte der Stripperin und Tabletop-Tänzerin Gina Davies, im Roman und von ihrer Umgebung einfach nur »the Doll« genannt. Abend um Abend stellt sie ihren Körper zur Schau, um sich mit ihrem gesparten Geld irgendwann in den Schutz einer glänzenden Konsumwelt flüchten zu können. Es ist der einzige Schutz, den sie sich erträumen kann: eine Mauer aus Geld, Luxus und Sorglosigkeit. Hinter dieser Mauer, davon ist sie überzeugt, leben die »wirklichen Menschen«, jene, die etwas bedeuten.

The Doll lebt und arbeitet in Sydney. Die Stadt wird von einer Post-9/11-Hysterie beherrscht, in der jedes herrenlose Päckchen ganze Stadtteile lahmlegen kann und jedes weiße Pulver die Furcht vor einem Giftgasanschlag auslöst. Der Roman beschreibt eine unangenehme Atmosphäre aus Islamophobie, Populismus und selbstgefällig zynischen Wirklichkeitsanalysen ruhmsüchtiger Journalisten.

The Doll hat sich eine kleine Welt kleiner Hoffnungen aufgebaut. Nachmittage mit ihrer besten Freundin am Stadtstrand, Momente aus Freude und Vorstadt-Normalität, meistens eingekleidet in einen Schutzschleier aus Beruhigungstabletten, Antidepressiva und Aufputschmitteln. Und doch ist the Doll eine kämpferische Frau, eine, die einfach nur irgendwie durchkommen will. Sie schützt und bewahrt die Gina Davies in ihrem Inneren und hofft auf eine Zukunft, in der sie endlich ein »normales Leben« führen kann.

Die Handlung des Romans umfasst nur vier Tage. Als Gina Davies zusammen mit einem One-Night-Stand auf dem Video einer Überwachungskamera auftaucht, gerät ihr Leben aus den Fugen. Der Fremde, mit dem sie nur eine Nacht verbrachte, wird als Terrorist identifiziert. Die unbekannte Frau neben ihm auf dem Video wird von den panikhungrigen Boulevard-Medien schnell zur Komplizin gemacht, zur »Unknown Terrorist«. Es beginnt eine Hexenjagd, der the Doll völlig hilflos ausgeliefert ist.

Anstatt zur Polizei zu gehen, versucht sie, diesen Irrtum zunächst zu verdrängen. Jemand wie sie hat die staatliche Ordnung und die Polizei niemals als Schutz und Helfer erlebt. In der Welt von Gina Davies ist Unschuld keine relevante Kategorie, denn Gerechtigkeit sieht sie nur bei den Reichen. Wer würde ihr schon glauben? Ihr, der Puppe? Als ihr klar wird, dass sie sich der Situation stellen muss, um das Missverständnis aufzuklären, ist sie bereits tief in eine Menschenjagd verstrickt, in der Schuld oder Unschuld kaum noch eine Rolle spielen. The Doll ist das perfekte Opfer eines Terrorismuswahns, der sich nichts sehnlicher wünscht als einen Feind im Inneren. Gina Davies ist das perfekte Opfer, weil sie ihr ganzes Leben ein Opfer war: von Männern, von Drogen, von einer Gesellschaft ohne soziale Aufstiegschancen.

Worauf die Tragödie von the Doll zusteuert, bleibt bis zum schockierenden Schluss völlig unklar. Zugleich zeigt uns Richard Flanagan die Tragödie einer Gesellschaft, die sich durch Angst und Feindseligkeit beherrschen lässt und dabei genau jene Menschlichkeit verliert, die sie zu verteidigen vorgibt. Ein ergreifender, fesselnder Roman, der mich beeindruckt hat.

Mittwoch, 30. November 2022

Auch der Teufel sitzt in der Hölle

Ich habe The Narrow Road to the Deep North von Richard Flanagan gelesen. Für mich ist das ein überragend guter Roman. Hier ein paar Gedanken dazu.


Dorrigo Evans ist Arzt in einem Arbeitslager im burmesischen Dschungel während des Zweiten Weltkrieges. Unter der brutalen Herrschaft japanischer Offiziere und koreanischer Aufseher sollen größtenteils australische Kriegsgefangene eine ebenso irrsinnige wie sinnlose Bahnstrecke durch den Dschungel schlagen, zum Ruhm des japanischen Kaisers. Der historische Kontext ist authentisch, beim Bau der Thailand-Burma-Eisenbahn starben insgesamt 40.000 bis 90.000 Menschen. Dies ist eines der größten Kriegsverbrechen durch die Japaner. Auch der Film Die Brücke am Kwai handelt davon.

Flanagan schildert das Leiden und Sterben der Protagonisten dieses Kriegsverbrechens mit großer Eindringlichkeit und gnadenloser Detailtreue. Das ging mir beim Lesen an die Nerven und ich musste mehr als einmal das Buch senken und kurz innehalten.

Je tiefer ich beim Lesen in diese tägliche Qual hineingezogen wurde, desto mehr verschwammen Opfer und Täter in der Grausamkeit des Krieges. Alle sitzen in einer gemeinsamen Hölle, der Teufel ebenso wie seine Opfer. Auch die kleinsten Gesten von Menschlichkeit wirken in dieser Welt wie etwas übernatürlich Fremdes, wie die vagen Schatten einer Wirklichkeit, die für diese Menschen im Dschungel für immer verloren scheint. Und doch geht es in diesem bemerkenswerten Roman genau darum: Wie kann man ein guter Mensch bleiben? Und was bedeutet gut in einer Welt, in der es praktisch keine moralisch guten Handlungsoptionen mehr gibt?

Der Roman beginnt nicht in dem Arbeitslager und er endet auch nicht in ihm. Zeitlich und menschlich geht die Handlung weit über dieses zentrale Thema hinaus. Wir lernen Dorrigo Evans schon vor dem Krieg kennen und begleiten ihn auch danach in seinen letzten Jahren als gefeierter Chirurg, dekorierter Kriegsheld und ruheloser Ehebrecher und Frauenheld, dessen innerliche Leere jedoch nichts mehr aufzufüllen vermag.

Der Leser folgt den Schicksalen von Ewans Kameraden und Leidensgenossen, aber auch jenen der japanischen und koreanischen Kriegsverbrecher. Wir werden Zeuge von Verdrängung, Selbstlügen, von zerbrochenen Seelen und – selten und zart – Erlösung und Vergebung. Immer wieder wechselt die Erzählung zwischen den Zeiten und Menschen und verknüpft verschiedene Lebensgeschichten vor, während und nach dem Krieg. Im Zentrum dieser Lebensgeschichten übt die Todeslinie im Dschungel wie ein Schwarzes Loch seine durchdringende Gravitation auf das Leben aller Beteiligten aus.

Zu Beginn forderte der Roman einige Seiten Eingewöhnung von mir, denn zumindest im englischen Original fehlen die Anführungszeichen bei wörtlicher Rede. Auf solche Stilmittel stehe ich eigentlich nicht, finde sie manchmal etwas affektiert. In dieser Geschichte macht es jedoch absolut Sinn. Durch diesen Kniff rückte das Innen und Außen, das Denken und Reden der Personen enger zusammen und wechselt fließend ineinander. Seite um Seite bekam The Narrow Road to the Deep North so für mich einen fast hypnotischen Sog, der zur bedrückenden Ausweglosigkeit des Todeslagers passt. Eine Ausweglosigkeit, welche die wenigen Überlebenden niemals wieder überwinden können.
Es ist der erste Roman, den ich von Richard Flanagan gelesen habe und es wird sicher nicht der letzte sein. Stilistisch und erzählerisch gehört er zu den besten Büchern, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Für mich ist das einer jener Romane, die mich ab nun begleiten werden. Ein großes Stück Literatur, ein kleines Meisterwerk.

Freitag, 10. Juni 2022

To boldy return to where we have been a thousand times

Ich habe mittlerweile die zweite Folge von Star Trek Strange New Worlds gesehen. Die Rückkehr zur Binnenhandlung finde ich toll und richtig! Die Folge ist spannend und alles, trotzdem bin ich insgesamt unentschlossen. Die Einführung der Personen und ihre Hauruck-Holzschnitt-Charakterisierung fühlt sich schon sehr nach Wohlfühldrehbuch-Algorithmus an. Uhuras Backgroundstory fand ich ermüdend, das ist alles klischeehaft und platt. Das war bei Star Trek selten anders, aber kriegen wir das mittlerweile nicht besser hin? Schauspielerisch überzeugt mich vor allem Anson Mount als Pike, der den Rest in die Tasche steckt. Melissa Navia und Dean Jeanotte haben zumindest schon mal einen Sympatico-Bonus (siehe oben unter Drehbuch Algorithmus). 

Strange New Worlds ist gut genug (und immerhin meilenweit besser als Picard und Discovery!), um mir irgendwann noch mehr Folgen anzusehen, aber die 60er Klischees der guten Amerikaner im glossy Gewand ergeben halt ein B-Picture. Das muss man wohl akzeptieren.


Das Problem der Serie mag sein, dass sie im Dreikampf mit MCU und Star Wars nur Erfolg hat, wenn sie irgendwie "für alle" konsumierbar ist. Und da zielen die Psycho-Targeter der Studios auf eine Zielgruppe, die man offensichtlich auf Tele Novela Niveau einschätzt. Ob dies so ist, sei dahingestellt. Und diese Targetgroup braucht anscheinend äußerst klischeehafte Mikro-Charakterisierungen fürs emotionale Matching. Gähn.


Trotzdem macht das Star Trek Universum mit Strange New Worlds einen Schritt nach vorne. Und wer weiß, wie sich die Serien noch entwickelt. Vielleicht schwimmt, äh fliegt, sich die Crew um Captain Pike ja noch frei … to bold go to where we are not sedated by the same Hollywood clichés over and over again.

Sonntag, 7. März 2021

Der letzte Mensch

    (Der amerikanische Schriftsteller Fredric Brown veröffentlichte in den 40er Jahren eine der kürzesten Geschichten, die es gibt. Sehr viele kennen sie. Sie passt in eine Zeile:

    The last man on Earth sat alone in a room. There was a knock on the door ...

Viele haben sich gefragt, wie diese Geschichte wohl weitergehen könnte. Vor einigen Jahren habe ich versucht, darauf meine eigene Antwort zu finden.)


    Der letzte Mensch der Welt saß in einem Raum. Da klopfte es an der Tür.

    Der Mann, der auf einem Stuhl an einem Tisch saß, starrte auf die Tischplatte zwischen seinen Händen. Sein Atem beschleunigte sich. Er zwang sich dazu, nicht zur Tür zu blicken.

    Da klopfte es ein zweites Mal.

    »Geh weg.« Seine eigene Stimme hatte er eine lange Zeit nicht mehr gehört. Sie klang ungewohnt für ihn. Stumm wiederholten seine Lippen die Worte. Geh. weg.

    Minuten verstrichen. Langsam hob der Mann seinen Kopf und blickte zur Tür.

    Das Klopfen wiederholte sich. Es klang lauter, drängender. Der Mann stand auf und trat zur Tür. Der Raum, in dem er lebte, war sehr klein. Sein Herz schlug schneller, als er seine Handfläche langsam auf das Holz legte. Mit großer Wucht schlug jemand von der anderen Seite mehrmals dagegen. Genau an die Stelle seiner Hand. Schnell nahm er sie zurück.

    »Geh weg!« Lauter diesmal.

    »Nein.« Die Stimme von der anderen Seite war gedämpft, aber deutlich.

    Am liebsten wäre der Mann bis zur gegenüberliegenden Wand zurückgewichen, doch er schaffte es, stehen zu bleiben. Er trat an die Tür und legte vorsichtig ein Ohr an das Holz. Jeden Moment erwartete er die nächsten Schläge, doch nichts geschah. Mit geschlossenen Augen versuchte er, durch die Tür zu lauschen. War das ein Atmen, den er hörte? Oder das Scharren eines Fußes? Vielleicht war es nur das Rauschen in seinen Ohren.

    »Du kannst nicht da sein«, rief er. »Ich bin der letzte Mensch.«

    »Das stimmt.«

    Darauf ging der Mann in die Knie und legte sich auf den Boden, um unter dem schmalen Türspalt hindurch zu sehen. Es war hell auf der anderen Seite und er sah zwei Schatten, die Füße sein konnten. Sie bewegten sich leicht. Sein Mund wurde trocken und das Herz in seiner Brust hämmerte. Als er sich wieder im Griff hatte, erhob er sich. »Wer bist du?«

    »Ich bin ein Teil von dir.« Wieder kam das Klopfen. »Lass mich rein.«

    »Wenn du ein Teil von mir bist, wie kannst du dann auf der anderen Seite der Tür sein?«

    »Du selbst hast mich fortgeschickt.«

    Der Mann runzelte verwundert die Stirn und dachte angestrengt nach. »Daran kann ich mich nicht erinnern.«

    »Ich weiß. Ich bin deine Erinnerung.«

    Der Brustkorb des Mannes hob und senkte sich in einem schnellen Rhythmus. Sein Atem erstarrte, als er sah, wie sich die Türklinke senkte. Er hatte vergessen, ob er die Tür abgeschlossen hatte. Von der anderen Seite wurde heftig an der Türklinke gerüttelt. Sie war verschlossen.

    »Was willst du?«, schrie der Mann.

    »Ich will zurück zu dir. Du brauchst mich.«

    Nur mit Mühe konnte er seine Stimme beruhigen. »Warum habe ich dich weggeschickt?«, fragte er betont und langsam.

    »Ich habe dir wehgetan.«

    Er machte einen Schritt zurück, bis er hinter sich die Tischkante spürte. »Und wenn ich dich hineinlasse. Dann tust du mir wieder weh?«

    »Du brauchst mich.«

    »Woran werde ich mich erinnern, wenn ich dich hinein lasse?«

    Eine Zeit lang herrschte Schweigen.

    »An dein Leben, bevor du dich in diesem Raum eingeschlossen hast.«

    Das Zittern seiner Hände ließ sich nur schwer unterdrücken. Sie ballten sich zu schmerzhaften, hilflosen Fäusten. »Ich bin der letzte Mensch. Ich kann nicht hinaus.«

    »Ich weiß. Du brauchst mich.«

    Langsam sank der Mann zu Boden und kauerte sich zusammen. »Geh weg«, flüsterte er.

    »Bitte«, sagte die Stimme.

    Der Mann kroch unter den Tisch und legte sich die Hände über das Gesicht. Er bewegte sich nicht. Das Klopfen wurde nicht mehr wiederholt. Die Stimme schwieg und das Schweigen hielt an.

    Irgendwann kamen die Tränen.

Donnerstag, 4. Februar 2021

Das Leben ist ein Ponyhof

       (Diese kurze Geschichte ist vor fünf Jahren aus einer kleinen Schreibübung entstanden. Vor kurzem bin ich wieder darüber gestolpert und musste feststellen, dass ich sie mag.)

Sie war einfach nicht schnell genug.

Mit jeder Ecke, jedem Zögern und jeder falschen Abzweigung, die Maura nahm, kam der Gorg näher. Längst hatte sie ihre Sandalen zurückgelassen und rannte barfuß über die Steinplatten. Es war ihr egal, ob der Gorg die Sandalen fand. Maura war sich sicher, dass er ihr ohnehin folgen konnte wie ein Bluthund.

Sie musste einen Ausgang finden. Doch in diesem Labyrinth schien es kein Entkommen zu geben.

Ich bin nur ein kleines Mädchen! wollte sie schreien. Das ist nicht fair!

Doch der Gorg kümmerte sich nicht um Fairness. Er hatte Hunger. Hunger und scharfe Zähne.

Immer links herum, hatte ihr großer Bruder einmal erzählt. Wenn man in einem Labyrinth ist, soll man immer links abbiegen. Maura war sich sicher, dass dieser Ratschlag sie tiefer hineingeführt hatte. Immer weiter von einem Ausgang entfernt. Wenn es hier überhaupt einen Ausgang gab.

Die hübschen Zöpfe, die ihre Mutter geflochten hatten, waren nur noch ein blonder Wust. Maura schwitzte und hatte Seitenstiche. Um diese Ecke noch. Sie war sich sicher, dass sie an dieser Abzweigung noch nie gewesen war.

Schon wieder eine Sackgasse.

Enttäuscht und zornig schlug Maura gegen die Wand. Tränen liefen über ihr Gesicht. Es ging nicht mehr. Sie konnte keinen Schritt mehr laufen. Sie wollte keinen Schritt mehr laufen. Es war vorbei.

Sie lauschte auf ihren Verfolger. Besondere Mühe musste sie sich nicht geben. Die patschenden Schritte des Gorg waren bereits deutlich zu hören.

Erschöpft setzte sich Maura auf den Boden. Ich bin nur ein kleines Mädchen, dachte sie matt. Und jetzt werde ich gefressen.

Bald schon hörte sie das Schnauben und Knurren des Gorg, dann schob sich der massige Körper des Ungeheuers um die Ecke.

Der Gorg war groß, widerlich und sabberte. Sein Leib füllte fast den kompletten Gang aus.

»Hallo … Mädchen«, gurgelte er und trieb Wolken nassen Gestanks vor sich her.

Was sollte sie tun? Hätte sie doch bloß auf ihre Eltern gehört.

Langsam kam der Gorg näher. Gräulicher Schleim tropfte von seinen Hauern, die Krallen seiner Hinterläufe scharrten über den Stein. Winzige Augen musterten sie begehrlich.

Maura hätte sich am liebsten übergeben.

»Bitte …«, flüsterte sie. »Friss mich nicht.«

Der Gorg klappte schmatzend seine Kiefer zu und wieder auf. »Doch.«

Hoffentlich tut es nicht weh, dachte Maura.

Wie ein stinkender Berg türmte sich das Untier über ihr auf und öffnete seine Vorderpranken, um das kleine Mädchen zu ergreifen.

Maura schloss die Augen.

Als sie ein überraschtes Grunzen hörte, öffnete sie die Augen wieder. Der Gorg hatte innegehalten und fixierte sie.

»Was ist das?«, fragte er dumpf.

Ein kleines Mädchen, du hirnloser Fleischberg.

Mit einer verhornten Kralle tippte der Gorg Maura überraschend sanft an die Brust.

»Was ist das?«, wiederholte er seine Frage.

Verblüfft blickte Maura auf ihr T-Shirt. »Das? Äh … ein rosa Einhorn.«

»Rosa. Einhorn … «, grollte der Gorg. Maura glaubte, Ehrfurcht in seiner animalischen Stimme zu hören. »Einhorn«, wiederholte der Gorg und das Glitzern in seinen Augen veränderte sich.

»Ja«, sagte Maura und war froh, ein wenig Zeit zu gewinnen. »Bei uns gibt es das überall. Ich habe auch ein Federmäppchen mit einem rosa Einhorn und Anna-Lena …«

»Wie schmeckt es?« Gierig beugte sich der Gorg vor und Schleim tropfte auf Mauras Knie.

»Wie es schmeckt?« Maura war verwirrt. »Das ist nicht zum Essen.«

»Schade.« Der Gorg seufzte und holte mit seinen Pranken aus, um Maura zu zerquetschen.

»Moment!«, schrie Maura im letzten Moment. »Natürlich kann man es essen. Ich weiß, wie es schmeckt. Es ist das Leckerste, was es überhaupt gibt.«

Zitternd erhob sie sich und durchsuchte hektisch die Taschen ihrer Jeans, bis sie das kleine Zuckertütchen gefunden hatte, das sie auf dieser verfluchten Autobahnraststätte eingesteckt hatte.

»So schmeckt rosa Einhorn«, sagte sie und riss das Tütchen auf. »Pfote her.«

Der Gorg öffnete seine Pranke und Maura schüttet die kleine Portion Zucker hinein.

Langsam ließ das Ungeheuer seine schleimige Zunge darüber gleiten. Seine Augen weiteten sich. Ein dunkles Schnurren ließ seinen Körper erzittern wie eine fette Katze.

»So schmeckt rosa Einhorn?«

Maura nickte eifrig.

Für einen Moment war der Gorg still.

»Komm mit, Mädchen«, brummte er dann.

»Wohin?«

»Nach draußen. Bring mich zu den rosa Einhörnern.« 

»Na klar, Gorg«, sagte Maura erleichtert. Hauptsache raus. Der Rest würde sich ergeben.

Montag, 25. Januar 2021

Die Wirklichkeit historischer Zahlen

Historische Zahlenangaben bleiben für uns oft abstrakt, verschwimmen zu einem »ist echt lang her«, einem »ziemlich viel« oder »ganz schön wenig«. Vielleicht kann es helfen, die abstrakten Größen in für uns begreifbare Kontexte zu setzen.

Geschichtswissenschaft handelt nicht von Zahlen, sondern von Menschen. Trotzdem sind historische Texte voll davon: Jahreszahlen, Zeiträume, Menschenmengen, Größen- und Mengenangaben. Manchmal werden sie verglichen, man betrachtet ihre Entwicklung, erklärt ihren Kontext. Oft dienen sie einfach nur als Fixpunkte in einem Kontinuum von vorher und nachher. Geschichte handelt nicht von Zahlen, und trotzdem erzählen allein Zahlen manchmal eine verblüffende Geschichte. So ist vermutlich nur wenigen Menschen klar, wie viel leerer die Welt früher war. Und dies, ohne dass wir in weit entfernte historische Epochen zurückgehen müssen. Im Jahr 1900 lebten etwas 1,6 Milliarden Menschen auf der Welt, heute sind es 7,8. Es gibt heute also fast fünfmal so viele Menschen, ein erheblicher Unterschied nicht nur auf dem Papier; er wäre für uns auch sichtbar und spürbar. Aber wir können dies nur schwer nachfühlen, denn es ist eben nur eine Zahl auf dem Papier.

Historische Zahlenangaben bleiben für uns oft abstrakt, verschwimmen zu einem »ist echt lang her«, einem »ziemlich viel« oder »ganz schön wenig«.

Vielleicht kann es helfen, die abstrakten Größen in für uns begreifbare Kontexte zu setzen. Wenn es um Menschenmengen geht, ist für mich als Fußballfan eine sehr greifbare Größe das Erlebnis eines ausverkauften Stadions. Wer jemals in einem vollen Stadion wie in Dortmund war, weiß was ich meine. Dort ist eine große Zahl von Menschen nichts Abstraktes. Wenn ich, leider viel zu selten (und im Moment ohnehin nicht), auf »der Nord« sitze, gegenüber der berühmten gelben Wand und der größten Stehtribüne der Welt, dann wird eine große Menschenmasse intensiv spürbar, hörbar und sichtbar. Wer nie in einem vollen Stadion war, der stellt sich dies vielleicht einschüchternd vor, aber das ist es nicht. Es ist ein schwer zu greifendes kollektives Gefühl, aufregend und jenseits aller Vereinstreue verbindend.

Stellen wir uns vor, wie wir im Signal-Iduna-Park von Dortmund unten am Rand des Spielfeldes stehen. Der Rasen ist noch leer, aber die Ränge sind ausverkauft bis auf den letzten Platz. Das Stimmengewirr erfüllt wie ein dumpfes Dröhnen die Luft. Mit einem kleinen Schwenk unseres Kopfes sehen wir 81.365 Menschen, wir können diese Menge fast mit einem Blick erfassen. Wir sehen sie von der ersten unteren Reihe hinter den bannergeschmückten Zäunen bis weit oben unter das Stadiondach. Groß und klein, jung und alt, Fangruppen, Familien. 81.356 Menschen. Eine riesenhafte Menge und doch nicht abstrakt, denn schau, hier sind sie.

Behalten wir dieses Bild vor Augen, denn nicht die Mannschaften betreten nun das Feld. Stellen wir uns vor, es würden Waffen auf das weite Spielfeld gebracht. Keine Handfeuerwaffen, sondern weitreichende Maschinengewehre auf drehbaren Lafetten und sogar kleine Artilleriegeschütze, vier, fünf, vielleicht sogar zehn Stück. Die Schützen machen sich bereit und töten unter infernalischem Lärm alle Menschen im Stadion, jeden einzelnen von den ersten Reihen hinter den Zäunen bis weit hinauf zum letzten Platz unter dem Stadiondach. Wir lassen keinen am Leben. Das ganze Stadion ist voller toter Menschen, 81.365.

Schließlich lassen wie die Toten abtransportieren, jeden einzelnen, bis das Stadion leer ist. Man wirft die Leichen achtlos auf irgendein Feld oder den großen Zuschauerparkplatz. Das spielt keine Rolle, es ist uns egal. Am nächsten Tag lassen wir neuen Menschen ins Stadion strömen und wieder ist das Dortmunder Station voll bis auf den letzten Platz. Wir töten auch sie. Die großen Maschinengewehre bestreichen die Ränge, bis jeder einzelne tot ist, ein furchtbarer Anblick. Wir lassen auch diese Toten wegräumen und wiederholen es am nächsten Tag ein weiteres Mal. Nicht einer der 81.365 Menschen auf den Rängen überlebt.

Dies machen wir insgesamt fast zwei Wochen, 13 Tage lang, jeden Tag für Tag für Tag. So viele Menschen kamen im Ersten Weltkrieg in einer einzigen Schlacht an der Somme ums Leben, über 1,1 Millionen Tote. Eine abstrakte Zahl? Gewiss. Es sind 13 voll ausverkaufte Fußballstadien des größten Stadions in Deutschland. Und Schlachten in annähernd dieser Größenordnung gab es zahlreiche im Ersten Weltkrieg. Wir müssen uns stets bemühen, die Wirklichkeit hinter der Zahl zu fassen, denn ein unfassbarer Schrecken berührt uns nicht. Doch er beziffert das wahre Wesen des Krieges, eine ungeheure Zahl ermordeter Menschen.

Donnerstag, 14. Januar 2021

Eskapismus und Geschichtsbücher

Eine gute Zeit für historische Sachbücher. Realitätsnaher Eskapismus: Psychohygiene durch Erkenntnisgewinn.

In fortschreitenden Corona-Zeiten lebe ich im Niemandsland. Die Grenze zu einem aktiven analogen Sozialleben (Kneipe, Kölsch, Museum, Stadion … hey, fremde Menschen!) lässt sich zurzeit nicht überschreiten. Der Rückzug auf die Couch und in fiktive Welten ist deshalb verlockend und hat mich sanft durch die Weihnachtszeit geleitet.

Es fühlt sich gesund an, immer Mal wieder auf Mute zu drücken und die Welt auszuklammern. Doch die Gegenwart ist in Bewegung und historische Prozesse beschleunigen sich. Ich muss mit mir selbst die Frage ausmachen, wie gut sich vor diesem Hintergrund Eskapismus für mich anfühlt und wie ich der intellektuellen Unruhe begegne, die sich nicht mehr so recht abschütteln lässt. 

Als ich TV-Zuschauer der Ereignisse in den USA wurde, war es vor allem ein Satz, der mir immer wieder in den Sinn kam: Schluss mit Eskapismus. Die Welt ist für mich zu laut geworden, um sie auszusperren. Dass ich studierter Historiker bin, mag hier eine Rolle spielen. Ich habe das Bedürfnis, mich von spontanen Emotionen zu lösen, um die Sache irgendwie mit Abstand zu bewerten, aber für diesen Impuls muss man sicher nicht Geschichte studiert haben. Ich will jetzt hier gar nix zur USA schreiben, da gibt es Schlauere und Informiertere als mich. Aber ich muss mit meiner eigene Befindlichkeit umgehen. Bei Belletristik mag sich gerade keine rechte Entspannung einstellen. Mein vorgesehener Lesestapel wirkt seltsam schweigend, als hätten mir die bunten Cover aktuell nur wenig zu sagen. Es ist nicht so, als würden Sorge und ein vager »Weltschmerz« die Entspannung überlagern; es fühlt sich eher an, als würden die meisten Romane nicht die richtigen Denkbewegungen anregen, keinen zeitgemäßen Genuss bieten. Die Wirklichkeit hat gerade die relevantere und – ganz urteilsfrei – auch die spannendere Narration. Doch CNN in Dauerschleife ist die schlechteste aller Ideen, eine endlose, zermürbende Kette erregter Meinungsäußerungen. 

Eine gute Zeit für historische Sachbücher – realitätsnaher Eskapismus. Psychohygiene durch Erkenntnisgewinn. Phantastik – bekanntermaßen meine belletristische »Heimat« – ist in hohem Maße eine metaphorische Literatur. SF und Fantasy spiegeln und verfremden unsere aktuellen und vergangenen Lebenswirklichkeiten und Biografien, von Flash Gordon bis Kim Stanley Robinson. Doch je lauter die Geräusche der Wirklichkeit werden, desto stärkere Anziehungskraft haben die Realitäten hinter den Metaphern für mich. Dann sind es nicht die imaginierten Imperien, sondern die realen, keine Orks, sondern Nazis. 

Schon während meines Geschichtsstudiums war mir sehr bewusst, dass meine Liebe für historische Themen eine Liebe zu den Narrationen ist. Geschichtswissenschaft ist eine methodisch gebundene literarische Konstruktion und ein »Text« im philosophischen Sinne; und dennoch einige Schichten näher am »Ding an sich«, so es dies in sozialen Systemen gibt. Die vergangenen Könige, Imperien, Grausamkeiten, Niederlagen und Siege haben uns viel über unsere Gegenwart zu sagen. Nicht weil sich Ereignisse wiederholen, es ist die menschliche Natur und die Dynamik sozialer Systeme, die sich wiederholt.
Thukydides, der »Urvater« der modernen Geschichtsschreibung, der seiner Schilderung des Peloponnesischen Krieges im fünften Jahrhundert v. Chr. den Grund seiner Aufzeichnungen voranstellt, sah hierin den tieferen Sinn seiner Historie: »wer aber das Gewesene klar erkennen will und damit auch das Künftige, das wieder einmal, nach der menschlichen Natur, gleich oder ähnlich sein wird, der mag es so für nützlich halten …« Hieran hat sich, aus meiner Sicht, über die Jahrtausende nichts geändert.

Der historische Blick hat andere Möglichkeiten als CNN, die Wirklichkeit gedanklich zu bändigen, trennt vielleicht schneller Hysterie von berechtigter Sorge und schärft den Blick für das Langfristige hinter dem Spontanen. Doch natürlich geht es mir nicht nur darum, irgendetwas »in den Griff zu bekommen« oder zu bewerten. Es geht auch um Lesevergnügen. Ein Teil der Spannung beim historischen Sachbuch liegt für mich in dem Bewusstsein, dass ich über etwas wirklich Gewesenes lese. Etwas, das durch die Jahre oder Jahrhunderte nach mir greift und wie eine genetische Spur bis heute in meiner Wirklichkeit nachweisbar bleibt.

Geschichtswissenschaft beschäftigt sich mit dem Weg, den wir gegangen sind, um genau dort zu stehen, wo wir jetzt gerade sind … und weitergehen. Gerade in Phasen, in denen sich historische Prozesse beschleunigen (Wiedervereinigung, Zerfall der Sowjetunion, 9/11 … und auch die aktuelle Entwicklung in den USA), ist historisches Denken einer der Sensoren, die uns zur Verfügung stehen, um mehr zu sehen, als zu sehen ist. Überflüssig zu erwähnen, dass auch Historiker keine besonders zuverlässigen Zukunftsforscher sind. Doch wenn sich Historiker Sorgen machen, sollten wir auf jeden Fall wachsam werden.

Das spannendste Buch, das ich in den letzten Monaten gelesen habe, war Barbara Tuchmans Klassiker »August 1914« zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges und zum Verlauf des kurzen Bewegungskrieges, bevor Europa in den grausamen Knochenmühlen der Schützengräben erstarrte, um dort langsam auszubluten. Barbara Tuchman hat mich in solch unerwartet intensivem Maße gefesselt, dass ich meinen Lesestapel ignoriere und meinen Impulsen nachgebe, um von Buch zu Buch zu springen … Tuchmans Klassiker ist rund 60 Jahre alt und in einigen Perspektiven veraltet, deshalb kann man dort nicht stehen bleiben. 

Es folgte die aktuellere und überaus exzellente Darstellung von Michael Howard zum Ersten Weltkrieg und gerade zurzeit die Monografie »Die Spanische Grippe: Die Seuche und der Erste Weltkrieg« von Manfred Vasold. Ich kann dieses vergleichsweise schmale Bändchen gar nicht schnell genug zu Ende lesen (es kommt stilistisch auch nicht an die beiden vorherigen heran), denn schon wartet am Ende des Ersten Weltkrieges die Novemberrevolution in Deutschland und die Entstehung der Weimarer Demokratie. 

Hinter mir im Regal steht seit einigen Jahren ein (auch im Sinne des Wortes) Schwergewicht der modernen Geschichtswissenschaft, Orlando Figes Meisterwerk zur Russischen Revolution, »Die Tragödie eines Volkes«. Ich hatte es vor Jahren zur falschen Zeit in unpassender Stimmung begonnen und fühlte mich nach 100 Seiten wie von einer zu komplexen Symphonie überfordert. Nun scheint alles darauf zuzulaufen, aber wer weiß … ich bin gespannt, wohin mich meine Impulse führen werden. Vielleicht sogar in ein anderes Jahrhundert und näher an meine Studienschwerpunkte? Im Moment gebe ich mir freien Lauf. 

Vielleicht ist die Anziehungskraft, die geschichtswissenschaftliche Bücher derzeit auf mich haben, ein Hinweis, dass sich mein Eskapismus unbewusst mit meinem Weltgefühl synchronisiert. In einer unruhigen Welt geht der Blick zurück, wir suchen unsere Position im Fluss der Zeit.